„Jeder Mensch braucht menschlichen Kontakt“

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Dr. Christian Ceconi, Bild: Berliner Stadtmission

Seit dem Herbst sind die Kältebusse der Berliner Stadtmission wieder unterwegs. Der Theologische Vorstand und Direktor der Berliner Stadtmission, Dr. Christian Ceconi, spricht über die Bedürfnisse und Nöte wohnungsloser Menschen, das Engagement der Berliner und die Vision, Obdachlosigkeit zu beseitigen.

Was ist die Idee der Kältebusse?
Nicht alle Obdachlosen erreichen die Notübernachtungen aus eigener Kraft. Was aber passiert mit den Menschen, die nachts noch auf der Straße sind, wenn es kalt und gefährlich wird? Unsere drei Kältebusse fahren bekannte Orte an, an denen sich Obdachlose aufhalten. Oder wir werden gerufen – etwa über die neue Kältehilfehotline 030 690 333 690. Unsere Mitarbeitenden bieten dann Hilfe an, ein heißes Getränk oder einen warmen Schlafsack. Einer unserer Kältebusse ist als Ambulanzbus ausgestattet. Damit können wir auch eine medizinische Grundversorgung anbieten. Wenn zum Beispiel eine Wunde zu versorgen ist, fahren wir auch mehrfach zu den Patienten und Patientinnen. Und manchmal braucht es auch einfach nur ein Gespräch von Mensch zu Mensch. Auch das hilft. Wenn die Menschen das möchten, bringen wir sie zu einer Notübernachtung.

Wie viele Menschen kommen jeden Tag in die Notübernachtung?
In unseren drei Einrichtungen bieten wir rund 300 Notübernachtungsplätze an. Aber wenn jemand Hilfe sucht, wollen wir diesen Menschen auch unterstützen. Das ist eine Grundhaltung bei den Kolleginnen und Kollegen: Wir wollen niemanden wegschicken. Und da sind wir oft kreativ. Neben einem Bett, Essen und Trinken bieten wir zum Beispiel auch Sozialberatung an.

Wie schützen Sie die Menschen in Corona-Zeiten?
Wir arbeiten da sehr eng mit dem Gesundheitsamt zusammen. Zwei Mal pro Woche werden all unsere Stammgäste und die Mitarbeitenden vor Betreten der Notunterkünfte getestet. Wer neu ist und zum ersten Mal bei uns übernachtet, oder wer Symptome hat, muss sich ebenfalls testen lassen. Das führt natürlich zum Teil zu langen Wartezeiten für die Hilfesuchenden. Wir haben mit dem Gesundheitsamt auch eine Quarantänestation für Obdachlose betrieben. Und einmal in der Woche bieten wir Impfmöglichkeiten an. Damit haben wir schon im vergangenen Sommer begonnen. Wir impfen nicht nur an den Notübernachtungen, sondern auch dort, wo die Menschen, wo die Kontakte und wo das Vertrauen sind. Das spielt beim Impfen ja eine große Rolle.

Leben heute mehr Menschen auf der Straße, als noch vor ein paar Jahren?
Wir haben schon den Eindruck, dass der Hilfebedarf steigt. Verlässliche Zahlen zu erheben, ist schwierig, denn nicht jeder Obdachlose ist auch als solcher erkennbar. Darüber hinaus gibt es eine geschätzt zehn Mal größere Zahl von so genannten Wohnungslosen, die zum Beispiel per Couchsurfing unterwegs sind. Zwischen Wohnungs- und Obdachlosigkeit sind die Übergänge oft fließend. Wir sehen auch eine Zunahme von Obdachlosen mit Mobilitätseinschränkungen, also Menschen mit Rollator oder Rollstuhl. Viele Obdachloseneinrichtungen müssen deshalb barrierefrei umgebaut werden, um für alle erreichbar zu sein. Auch unseren Ambulanzbus haben wir inzwischen entsprechend aufgerüstet.

Wie ist die Kältehilfe organisiert? Sind die Helfenden ehrenamtlich unterwegs?
Vieles hat ehrenamtlich angefangen. Aber wir haben gemerkt, dass wir einen Stab von planbaren Hauptamtlichen brauchen. Wir haben unter anderem Psychologinnen und Psychologen im Team, Sozialarbeitende, medizinisches Personal und eine Schichtleitung für jede Notübernachtung. Wir haben auch jemanden, der die ganze Kältebuslogistik organisiert. Im Einsatz sind in der Regel gemischte Teams. Ohne die große Zahl der engagierten Ehrenamtlichen könnten wir die hohe Versorgungsqualität niemals leisten. Es geht schließlich um menschliche Beziehungen, nicht nur um Essen und einen Übernachtungsplatz.

Wie finanzieren Sie Ihre Angebote?
Für die Notübernachtungen erhalten wir einen Tagessatz pro Übernachtung, der die Kosten allerdings nicht abdeckt. Vieles ist spendenfinanziert. Insgesamt ist es toll, wie sich die Berlinerinnen und Berliner für Obdachlose einsetzen. Wir merken, dass das Thema inzwischen sehr viel stärker in der öffentlichen Wahrnehmung ist. Und wir merken auch, dass das Interesse gewachsen ist, die betroffenen Menschen kennenzulernen. Wichtig sind für uns natürlich verlässliche Spenden, mit denen wir planen können. Unsere Arbeit lebt eben auch von langfristigen Beziehungen und da ist es für uns toll, dass wir Partner wie die GASAG haben, die uns über einen langen Zeitraum beständig unterstützen. Aber auch die vielen Kleinspenden sind von großer Bedeutung. Die einen spenden Zeit, die anderen spenden Geld, die nächsten spenden Schlafsäcke. Und all das versuchen wir so zusammenzubringen, dass am Ende möglichst viel für die Obdachlosen rauskommt.

Berlin will die Obdachlosigkeit bis 2030 beseitigen. Was halten Sie davon?
Das formulierte Ziel ist auf jeden Fall ein großer Push, um dem Thema noch mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen. Auch wenn wir nicht wissen, ob eine völlige Beseitigung möglich ist, ist es eine großartige Vision zu fragen: Wie wäre es denn, wenn Berlin die erste Stadt in Europa ist, die das hinbekommt?

Und was ist dazu notwendig?
Die Kunst besteht darin, Menschen dabei zu unterstützen, ihr Leben zu ordnen. Veränderungen verlangen ja immer eine große Anstrengung – das kennt jeder von sich selbst. Und nun stellen Sie sich vor, Sie sind auf der Straße, checken Tag für Tag abends in einer Notübernachtung ein, gehen morgens wieder raus. Das bedeutet permanenten Stress. Der Schlüssel ist, den Menschen erstmal diesen Stress von den Schultern zu nehmen. Nur so haben die Betroffenen überhaupt die Ressourcen, über andere Dinge nachzudenken: Wie komme ich an einen Personalausweis, wie an eine Krankenversicherung? Wie könnte ich einen Tagesrhythmus entwickeln?

Wie kann man die Menschen dabei unterstützen?
Eine wichtige Voraussetzung dafür ist Ruhe und ein wenig Sicherheit. Als wir zu Beginn der Pandemie Unterkünfte anbieten konnten, in denen die Menschen sich auch tagsüber aufhalten durften, haben wir gesehen, wie sie sich nach ein paar Tagen verändert haben. Einzelne haben nach neuen Perspektiven gesucht und begonnen, sich selbst ehrenamtlich in der Kleiderkammer zu engagieren. Wir müssen deshalb Wege finden, die Menschen dabei helfen, ihr Leben zu strukturieren und zu stabilisieren. Diese sogenannten 24/7-Einrichtungen sind deshalb eine wichtige Komponente bei der Beseitigung von Obdachlosigkeit. Es ist daher gut, dass Berlin diese Einrichtungen nun verstetigt. Auch die Berliner Stadtmission hat mit Mitteln aus dem Europäischen Sozialfonds und des Lands Berlin eine 24/7 mit dem Namen „SuN Schutz und Neustart für Menschen ohne Obdach“ eröffnet. Sozial besonders benachteiligte, wohnungslose und auf der Straße lebende Menschen können hier über einen längeren Zeitraum bleiben.

Was kann jeder selbst machen, wenn er einen hilflosen Obdachlosen auf der Straße sieht?
Mein Tipp ist, wenn Sie einen Obdachlosen sehen und sich fragen: Mensch, was ist da los? Dann machen Sie genau das, was Sie sonst auch machen würden. Gehen Sie hin und fragen Sie: „Guten Tag, wie geht es Ihnen?“ und „Brauchen Sie etwas oder kann ich etwas für Sie tun?“ Das gilt auch, wenn Sie den Kältebus rufen. Fragen Sie die Leute bitte immer erst, ob sie wirklich Hilfe brauchen. Dann fährt der Kältebus nicht umsonst durch die halbe Stadt und kann in der Zeit jemandem helfen, der das auch möchte. Gehen Sie einfach ins Gespräch oder trinken Sie mal einen Kaffee mit einem Obdachlosen. Lernen Sie etwas über seine Welt. Menschlicher Kontakt ist das, wonach jeder Mensch hungrig ist.

Das Interview führte Ute Czylwik, freie Redakteurin für GASAG


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Von November bis März sind jeden Abend die drei Kältebusse der Berliner Stadtmission unterwegs, um Menschen ohne Obdach zu versorgen und in Notunterkünfte zu bringen.

Kältebus-Hotline der Berliner Stadtmission täglich von 20 bis 2 Uhr: 030 - 690 333 690

Im Notfall wählen Sie: 110 (Polizei) oder 112 (Feuerwehr/Rettungsdienst)